Genre: Action-Rollenspiel
Erschienen: 5. Juni 2018 für PC, PS4, Xbox One
Alterseinstufung: USK ab 16
Kaum ein Entwicklerstudio schafft mit vergleichsweise
geringen Mitteln so viel Wirkung wie zuletzt Dontnod. Galt Remember Me im Jahr
2013 noch als Geheimtipp, war bereits Life Is Strange der große Wurf. Mit dem
Action-Rollenspiel Vampyr wird die positive Tendenz weiter konsequent
fortgeführt.
Videospiele mit düsterem Vampir-Setting haben eine lange
Tradition und werden durch gelungene Vertreter der Vergangenheit meist mit
Spannung erwartet, beispielsweise Legacy of Kain oder Vampire: Bloodlines.
Zuletzt zeigten sich die thematischen Auseinandersetzung jedoch arg blutleer,
etwa bei DARK. Eines vorneweg: Auch Vampyr ist keine AAA-Produktion mit hohem
Budget, sondern ein von den Entwicklern selbst bezeichneter AA-Titel. Und was
soll man sagen: Egal! Es hat Vampyr nicht geschadet, trotz der unübersehbaren
Ecken und Kanten. Die Auseinandersetzung mit vielen mysteriösen Vampir-Themen
motiviert bis zum Ende.
Schon die Ausgangslage ist nicht längst nicht so
ausgelutscht wie befürchtet sondern erstaunlich frisch. Als Jonathan Reid kehrt
man im Jahr 1918 aus dem 1. Weltkrieg zurück ins ungemütliche London. Hier
grassiert aktuell die verheerende Spanische Grippe, eine Pandemie, die
tatsächlich im frühen 20. Jahrhundert viele Millionen Todesopfer forderte. Unsere
Spielfigur plagen aber erstmal ganz andere Probleme, schließlich erwacht er
völlig entkräftet in einem ausgehobenen Massengrab und wird vom Blutdurst durch
die Straßen getrieben. Das erste Opfer seiner Verwirrung lässt nicht lange auf
sich warten. Tragischerweise muss seine Schwester Mary den Hals hinhalten.
Diese Tat lässt Reid fortan nicht mehr los und so bleibt die
eigene Familie ein wichtiger Strang in der vielschichtigen Hauptgeschichte. Der
Hauptcharakter sucht aber auch fortan nach seinem Erzeuger, als derjenigen
Person, die ihn diesen Fluch auferlegt hat. Außerdem macht er recht früh die
Bekanntschaft mit Dr. Edgar Swansea. Dieser weiß um die bekannten chirurgischen
Kenntnisse des Vampirs und heuert ihn kurzerhand im nahe gelegenen Pembroke Hospital
an, um seine Forschungen bezüglich Bluttransfusionen und Organtransplantationen
voranzutreiben. Schließlich hat die Stadt nicht nur mit der Spanischen Grippe
zu kämpfen, sondern auch mit einer unübersehbaren Ausbreitung von Vampirismus.
20 bis 40 Stunden Spielzeit sollte man für Vampyr einplanen.
In dieser kurzweiligen Zeit schaffen es die Entwickler wiederum mit
interessanten Charakteren, überraschenden Story-Wendungen sowie der
beklemmenden Atmosphäre zu punkten. Zwischensequenzen werden entweder in
Spielgrafik oder durch wenige animierte Schnipsel präsentiert. Auch in diesem
Werk werden unangenehme Themen aufgegriffen, etwa Rassismus, Homophobie oder Kriegstraumata.
Insgesamt bleibt die Stimmung ernst und der Tenor ruhig.
Im Kern ist das Spiel ein Action-Rollenspiel aus der
übersichtlichen Schulterperspektive. Für erfolgreich absolvierte Aufträge oder
Kämpfe werden Erfahrungspunkte gutgeschrieben. In neue Fähigkeiten können diese
aber erst nach einer erholsamen Ruhepause investiert werden. Der Talentbaum ist
relativ übersichtlich und bietet solide Möglichkeiten zur Charakterentwicklung.
Die Auftraggeber nehmen eine wichtige Rolle ein, schließlich werden neue
Dialoge erst dann offenbart, wenn gewisse Informationen gefunden werden. So
taucht man noch tiefer in die kompakte Spielwelt mit seinen vier Distrikten
ein, um die Geheimnisse der Figuren zu ergründen. Wer sich mit den Bewohnern
beschäftigt, hat es dann leichter, sich in London zurecht zu finden und erlebt
obendrein erstaunliche Schicksale anstatt langweiliger Statisten-Floskeln. Hier
hebt sich Vampyr angenehm von Genre-Konkurrenten ab, auch weil die
Entscheidungsfindungen und die damit verbundenen starken Auswirkungen nicht auf
einen Bierdeckel passen. Bewundernswert dabei ist noch zu erwähnen, dass
Beziehungen zwischen den Bewohnern erkennbar sind.
Ohnehin hat es der normale Schwierigkeitsgrad bereits in
sich, weshalb ein so genannter Story-Modus nachgereicht wurde, der die
Überlebenschancen erhöht. Für Hartgesottene, die bereits erfolgreiche
Erfahrungen mit Titeln wie Bloodborne oder Dark Souls sammeln konnten, gibt es
den Hardcore-Modus. Letztendlich steht der Hauptprotagonist regelmäßig vor
konsequenten Entscheidungen, Figuren für eine große Anzahl an Erfahrungspunkten
auszusaugen oder im Gegenteil zu verschonen sowie mit selbst hergestellten
Medikamenten zu versorgen. Diese kann Dr. Reid mit den eingesammelten Zutaten
an Arbeitstischen herstellen. Schließlich wirkt sich die Spielweise auf die
Zustände der einzelnen Bezirke aus. Ausgesaugte oder kranke Personen haben
negative Auswirkungen, an dieser Stelle erscheinen deutlich mehr Feinde in Form
von Vampirjägern und Bestien, die regelmäßig angreifen und respawnen. Das
Kampfsystem punktet mit den Vampireigenschaften sowie einem überschaubaren
Repertoire an aufrüstbaren Einhand-, Zweihand- oder Feuerwaffen.
Story und Gameplay überzeugen also auf ganzer Linie.
Technisch fehlt Vampyr aber ein wenig der Biss. Die bekannte Unreal-Engine
zeichnet ein düsteres Bild, weil das Geschehen ausschließlich bei Nacht
stattfindet. Ärgerlich sind viele kleine Ladepausen, die dreckige Spielwelt
wirkt dadurch stellenweise etwas fragmentiert. Als störend empfinde ich einige
unlogische Levelbegrenzungen und scheinbar unüberwindbare Hürden, ein Vampir
sollte sich schließlich etwas freier bewegen können. Dafür sind die wichtigsten
Charaktere trotz einer gewissen hölzernen Mimik schön detailliert dargestellt.
Die englische Sprachausgabe (deutsche Texte) ist gut und steht dem
stimmungsvollen Soundtrack in nichts nach.
Machen wir es kurz und schmerzlos: Vampyr ist für mich das
beste Blutsauger-Videospiel seit Vampire: Bloodlines und der
Legacy-of-Kain-Reihe. Das solide Action-RPG-Gerüst begeistert mich mit
tiefgründigen Figuren und ihren Beziehungen untereinander sowie der starken
Story. Ein durchdachtes Highlight des Spieljahres 2018.